Japan / Fukushima

Japan und die Welt nach Fukushima
05. Dezember 2013

Zu diesem Thema hatte die Lokale Agenda 21 zusammen mit dem kompletten „Bündnis Energiewende Wiesbaden Taunus“, am Sonntag den 24.November, ins Hilde-Müller-Haus, in Wiesbaden eingeladen.

Kazuhiko Kobayashi, 67, ein japanischer Anti-Atom-Kämpfer, diskutierte in Wiesbaden mit gut 80 Bürgern die aktuelle Situation der Menschen in Fukushima.

Kazuhiko
©BEWWT 2013: Kazuhiko Kobayashi / Wiesbaden

Wer der Einladung gefolgt war, für den öffneten sich neue Einblicke auf die Situation in Fukushima. Kazuhiko Kobayashi kann als studierter Germanist und auf Basis seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit in Deutschland ein Verständnis zur japanischen Kultur und Hintergrundinformation zum Zusammenhang von Atomwaffen und Atomkraft vermitteln.

mehr: Wiesbadener Kurier [27.11.2013]: Kazuhiko Kobayashi berichtet aus der Region Fukushima
Nachtrag - weitere Pressemeldungen zu Fukushima und K. Kobayashi

mehr: Schwäbische.de [01.12.2013]: Fukushima: Wo Strahlen lange Schatten werfen

mehr: Augsburger Allgemeine [02.12.2013]: Die Wahrheit über Fukushima

Situation in der Präfektur Fukushima

Im Kern seines Vortrags ging Kazuhiko Kobayashi anhand von Bildern und dokumentierten Messwerten zur Strahlenbelastung auf einige markanter Widersprüche zwischen der offiziellen Darstellung von japanischen offiziellen Stellen, der IAEA (Internationale Atomenergie-Organisation) und den großen japanischen Medien einerseits sowie der Realität für die Menschen andererseits ein. Dabei ist erschreckend, dass die Leute systematisch belogen werden. Einige Beispiele:  

  • Kurz nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima folgten die Behörden dem Rat der IAEA und erhöhten den Grenzwert für die jährlich zulässige Strahlenbelastung um das 20-fache. Es wurde ein Evakuierungsradius von 20 km um das Atomkraftwerk festgelegt und mittlerweile in eine Sperrzone umgewandelt. Damit war die Anzahl der zu evakuierenden Menschen auf etwa 150.000 beschränkt. Im näheren Umfeld leben 2 Millionen Menschen. Die radioaktive Belastung verteilt sich wind- und wetterabhängig. Das Gebiet ist gebirgig, was zu einer komplizierten Verteilung der radioaktiven Belastungen führt.
  • Zur Beruhigung der Bevölkerung finden öffentliche Festveranstaltungen statt. Beispielsweise säubern Kinder öffentliche Postkästen oder sie werden von Wagen mit Mickey Mouse Figuren angelockt und begrüßt. Die von lokalen Initiativen gemessenen Strahlenbelastungen während solcher Feste lagen teils deutlich über den Grenzwerten die vor der Atomkatastrophe galten.
  • In Städten sind öffentliche Strahlenmessgeräte aufgebaut. Diese zeigen fast alle etwa die Hälfte der Strahlendosis, die die tragbaren Messgeräte der lokalen Bürgerinitiativen übereinstimmend zeigen. Zusätzlich wird im Umkreis von 6-8m der öffentlichen Messgeräte ordentlich dekontaminiert.
  • Mittlerweile gibt es Berichte, dass bei knapp 60% der Kindern und Jugendlichen um Fukushima Veränderungen an der Schilddrüse wie Zysten und Knoten auftreten. In Japan liegt die Wahrscheinlichkeit dafür aber bei nur etwa 1%. Zur Gesundheitsvorsorge wurden mittlerweile Reihenuntersuchungen an bisher 150.000 Kinder durchgeführt. Dabei werden die Befunde nach Vorgabe an die lokalen Ärzte in 4 Kategorien, abhängig von der Größe von gefundenen Zysten und Knoten, eingeteilt. Nach Vorgabe an die lokal untersuchenden Ärzte gelten auch die Kinder mit kleineren Schilddrüsenzysten als gesund, es wird eine Folgeuntersuchung nach 2 Jahren empfohlen.
  • Kinder tragen Dosimeter. Die Werte werden von den Lehrern gesammelt. Die Daten werden aber nicht Institutionen zur Verfügung gestellt die den Kindern helfen wollen sondern die Daten werden in großem Stil gesammelt und an die IAEA weitergeleitet.

Die Initiativen diskutierten Messwerte und Risiken mit den betroffenen Menschen. Typische Antworten:

  • Ich vertraue den Aussagen der Regierung, dass es ungefährlich ist. Deshalb lasse ich mein Kind hier spielen.
  • Ich habe Angst um mein Kind, aber wir können nicht wegziehen da mein Mann anderswo keine Arbeit findet.
  • Wir haben gerade ein Haus gekauft. Das ist jetzt unverkäuflich und wir müssen die Raten an die Bank zahlen.

Darüber hinaus ging Kazuhiko Kobayashi kurz auf die Situation am Kraftwerk selbst, insbesondere der Unmengen mit belastetem Wasser ein. Er kann sich nicht vorstellen wie dies ordentlich entsorgt werden soll und fürchtet, dass das meiste davon irgendwann im Pazifik landet. Überall in der Region sieht man große blaue Plastiksäcke in denen radioaktiv belastetes Material aus den Dekontaminationsarbeiten gesammelt ist, z. Bsp. in Vorgärten und an Straßenrändern. Die zuständigen Stellen sind überfordert dies zügig zu entsorgen. Ohnehin sei dies eine Sisyphusarbeit, da Wind und Wetter wieder neue radioaktive Belastung in dem gebirgigen Gebiet umverteilen.

Hintergründe

Es stellen sich zwei wesentliche Fragen zu den Hintergründen. Warum verheimlichen, vertuschen die offiziellen Stellen die Situation und warum nimmt die Bevölkerung dies so geduldig und fügsam hin?

Kazuhiko Kobayashi ging auf die japanische Mentalität ein. Die Tokugawa-Shogun-Dynastie (1603 bis 1868) hatte 265 Jahre lang das Volk nicht mit äußerer Gewalt, sondern mit „Erziehung“ zur kritiklosen Gehorsamkeit gegenüber den in der sozialen Hierarchie höher Stehenden als einzigartige Tugend manipuliert und gezähmt. Dies ist tief in der japanischen Mentalität verwurzelt, was sich auch heute noch die politischen und wirtschaftlichen Oberschichten immer wieder systematisch zunutze machen.

Um die Hintergründe zur zweiten Frage zu verstehen, spannte Kazuhiko Kobayashi den Bogen von den nuklearen Tests an 1200 Amerikaner in den USA während der Entwicklung der ersten Atombombe über die Weisung an Japan nach dem 2. Weltkrieg, die Opfer von Hiroshima und Nagasaki als Objekte der Atomforschung zu betrachten mit der Konsequenz, dass kein japanischer Mediziner Forschungen zu diesem Thema anstellen durfte. In 1959 verpflichtete sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Erkenntnisse zu nuklearen Folgen geheim zu halten und nur in Absprache mit der IAEA zu veröffentlichen. Ein ähnlicher Geheimhaltungsvertrag schloss die USA mit Japan nach den Protesten Japans wegen geschädigter Menschen bei dem Wasserstoffbombentest 1954. Unter diesen Gegebenheiten hatte sich ein Dreierbündnis von Elitestaatsbeamten, regierenden Politikern und Konzernchefs gebildet und in Japan, trotz der bekannten extrem erdbebenreichen Situation, die Atompolitik zur Sicherung von politischen und industriell-wirtschaftlichen Interessen vorangetrieben und mehr als 50 Atomkraftwerke aufgebaut.

Nach Auffassung von Kazuhiko Kobayashi wirkt diese Kultur des Geheimhaltens, Verharmlosens, Lügens und Vertuschens bis heute nach und erklärt weitgehend das Verhalten von Regierung und Wirtschaft im Fall von Fukushima. Hinzu kommt, dass mittlerweile japanische Atomkonzerne eine sehr weit- und tiefgehenden Verflechtung mit vielen Subunternehmern und Firmen in Japan aufgebaut haben. Die wirtschaftliche Gefährdung eines Atomkonzerns in Japan würde deshalb auch gravierende wirtschaftliche Auswirkungen für Japan nach sich ziehen.

Fazit

Kazuhiko Kobayashi warnt die Europäer vor der Atomkraft und stellte in seiner angenehmen Art Fragen.

  • Könnte so etwas wie die „Gehirnwäsche“, die in der japanischen Kultur stattgefunden hat, nicht in völlig anderer Form auch in Europa existieren (Beispiel: Werbung)?
  • Inwieweit wäre Europa noch bewohnbar wenn ein GAU in La Hague stattfände?

Nach Kazuhiko Kobayashis Überzeugung verstößt Atomkraft und die Situation in Fukushima gegen Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Atomtechnik, die im Falle eines Atomwaffeneinsatzes oder eines GAUs radioaktive Verseuchungen in riesigen räumlichen und zeitlichen Dimensionen und nicht mehr wieder gut zu machende Schäden für Menschenleben und die ganze biologische Umwelt bringt, geht über jegliche Verantwortbarkeit von Menschen weit hinaus. Kazuhiko Kobayashi appelliert dringlich auf seinen selbstfinanzierten Vortragsreisen durch Europa vor der Atomkraft und ruft zu einer weltweiten, größeren und stärkeren Zusammenarbeit für die Abschaffung von allen Atomwaffen und Atomkraftwerken auf.

Zum Ende der Veranstaltung berichtete Hr. Kazuhiko Kobayashis von einer Ihm eigenen Aktion in Fukushima. Um einen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dass den Kindern und betroffenen Menschen vor Ort geholfen werden kann, sammelt er dabei auch kleine Spenden für deren medizinische Untersuchung durch regierungsunabhängige freiwillige Ärzte und eine Reha-Einrichtung, organisiert von Anti-Atom-Bürgerinitiativen in Japan und der ganzen Welt.

Veranstalter:

Lokale Agenda 21 Taunusstein (AK-Energiewende), AKTE, BEWT (Bündnis-Energiewende-Wiesbaden-Taunus)

Rückfragen und weitere Informationen bitte an:
Reiner Theis, Aarstr.5, Taunusstein-Seitzenhahn (Tel.0151/22069780)